125 Jahre – ein Familienunternehmen in vierter Generation
„Hätte jemand meinem Vater in den ersten Jahren seiner Unternehmertätigkeit gesagt, dass sein Betrieb noch einmal Filialen im Ausland haben würde, dann hätte er wohl nur ungläubig gelächelt“, heißt es in den Lebenserinnerungen von Carl Haver jun. (1884 - 1976), die der Sohn des Firmengründers Carl Haver in den 1960er Jahren schrieb. Am 25. August 1887 gründete dieser zusammen mit seinem Vetter Eduard Boecker im märkischen Hohenlimburg, dem damaligen deutschen Zentrum der Drahtzieherei und Drahtweberei, das Unternehmen HAVER & BOECKER. Eduard Boecker schied bereits 1891 aus dem Unternehmen aus. Die Anfänge waren schwierig aufgrund der Arbeitsverhältnisse in Hohenlimburg und der Thüringer Konkurrenz. Das änderte sich mit dem Umzug ins westfälische Oelde, wo seit 1897 der Hauptfirmensitz ist. Bis 1890 hatte sich die Belegschaft von zwölf auf 24 Mitarbeiter verdoppelt. 1925 wurde die Maschinenfabrik gegründet, die sich neben der Drahtweberei zum zweiten Unternehmensstandbein entwickelt hat.
Früh wurde die Bedeutung von Aus- und Weiterbildung erkannt. Seit 1905 wird bereits nachweislich ausgebildet. 1940 wurde eine eigene Lehrwerkstatt eingerichtet, die heute so ausgestattet ist, dass die gewerblich-technischen Auszubildenden dort ihre Kompetenzen entwickeln und schulen können. Jährlich erhalten über 100 junge Leute bei HAVER & BOECKER eine technische oder kaufmännische Berufsausbildung auf überdurchschnittlich hohem Niveau, die sie im landesweiten Vergleich mit ebenso überdurchschnittlich guten Prüfungsergebnissen abschließen. 2007 wurde die HAVER Academy als Weiterbildungsplattform für Mitarbeiter und Kunden eingerichtet. In Zusammenarbeit mit der Siemens Berufsausbildung und der Fachhochschule Südwestfalen kann ein ausbildungs- und berufsbegleitendes Studium zum Bachelor of Arts oder Engineering absolviert werden.
In 125 Jahren hat sich aus dem 12-Mann-Betrieb in Hohenlimburg ein diversifiziertes, international engagiertes Unternehmen entwickelt. Das Gesamtunternehmen hat mit seinen weltweit 50 Tochterunternehmen und insgesamt 2400 Mitarbeitern im Jahr 2011 einen Umsatz von über 370 Mio. € erwirtschaftet. Eine aktive Unternehmenskultur und die soziale Verantwortung des traditionellen Familienunternehmens tragen zur Motivation und langfristigen Bindung der Menschen bei, die für und mit HAVER & BOECKER zusammenarbeiten. Darüber hinaus ist die Familie seit der Gründung von HAVER & BOECKER aktiv in der Unternehmensführung tätig, zurzeit in vierter Generation. Rechtsform ist nach wie vor die oHG.
Anlässlich dieses herausragenden Jubiläums trafen sich die Redaktionen der AT INTERNATIONAL und der ZKG INTERNATIONAL mit Helmut Schuhmacher, Leiter des Geschäftsbereiches Industriesiebe in der Drahtweberei und Dr. Reinhold Festge, Geschäftsführender Gesellschafter von HAVER & BOECKER.
AT INTERNATIONAL: 125 Jahre ist ein stattliches Alter für eine Firma – und steht auch für eine lange Zeit, in der Entwicklungen im Produktionsbereich und in der Vielfalt der Anwendungen wachsen können. Was waren die wesentlichen Meilensteine in der Geschichte der Drahtweberei?
Helmut Schumacher: Ob Wissenschaft und Forschung, Industrie oder Architektur – überall dort, wo Drahtgewebe von HAVER & BOECKER zum Einsatz kommen, profitieren Kunden von der 125 jährigen Erfahrung bei der Herstellung von Drahtgeweben für die unterschiedlichsten Anwendungsbereiche. Die Gestaltung der Produktpalette und der Produktionsprozesse wurde während der langen Geschichte des Unternehmens immer wieder zielstrebig und rechtzeitig auf die Bedürfnisse und Anforderungen der jeweiligen Märkte abgestimmt, neue Märkte damit erschlossen. Der erste wesentliche Schritt war mit dem Eintritt ins 20. Jhd. die Mechanisierung der Drahtwebstühle sowie die Ausweitung des Produktionsprogramms: Feingewebe 250 Mesh mit 10 000 Maschen pro cm2. Hinzu kamen Ösendrähte für Sackverschlüsse in der Zementindustrie.
Neben den ersten Schritten hin zur Internationalisierung wurden in den 20er und 30er Jahren des 20 Jhds. die HAVER-Metall-Gaze für den Präzisionssiebdruck und die ersten NIAGARA Schwingsiebmaschinen entwickelt und produziert. Die weitere Entwicklung bis 1960 war geprägt von der Herstellung des weltweit feinsten Drahtgewebes: 540 Mesh mit 45 000 Maschen pro cm2 sowie MINIMESH Filtertressen für die Luft- und Raumfahrt. Ein herausragendes Ereignis war beispielsweise die Lieferung von Edelstahl-Drahtgewebe DOKAWELL für die Großvolière im Münchener Tierpark Hellabrunn. In den letzten 30 Jahren konnte die Marktposition weiter ausgebaut werden. Es kam ein neuer Markt hinzu – die Architektur-Drahtgewebe. Für diesen Bereich wurde auch das IMAGIC WEAVE®, eine transparente Medienfassade entwickelt. Wir verarbeiten unsere Drahtgewebe auch zu Filter- und Formteilen weiter, die z.B. im Automotive-Bereich eingesetzt werden.
Helmut Schumacher: Im Laufe der 125 Jahre haben sich die zunächst sehr einfachen Drahtgewebe stark diversifiziert und an die vielen Anwendungen angepasst. Heute führt die Drahtweberei mehr als 3600 Drahtgewebesorten.
Eine wesentliche Weiterentwicklung brachte die Verwendung von Federstahl. Er besitzt eine hohe Festigkeit (1260 - 1970 MPa) und ist durch spezielle Verfahren im höchsten Maße verschleiß- und schwingungsfest.
Für schwieriges Siebgut wurden die Harfensiebe entwickelt. Durch die frei schwingenden Einzeldrähte werden Anbackungen verhindert. Auch der Einsatz von PU-Beschichtungen brachte eine deutliche Verbesserung der Verschleißfestigkeit, durch das Zurückfedern werden auch hier Anbackungen vermieden. Ein weiteres Beispiel für die Diversifizierung ist der Einsatz von Flachdrähten, durch die die Verstopfungen der Maschen fast vollständig vermieden werden können.
Die ständige Weiterentwicklung unserer Produkte, die Suche nach neuen Einsatzmöglichkeiten von Drahtgeweben – ein ganz herausragendes Beispiel sind die Architekturgewebe oder auch der Einsatz in der Automobilindustrie – haben vor allem das Wachstum unserer Firma begründet.
Helmut Schumacher: Zusammen mit der Firma Artech Systems AG aus der Schweiz wurden Ultraschallsiebsysteme für die Siebung von Schüttgütern bis zu einem Trennschnitt von 500 µm (und feiner) optimiert. Hierbei werden Drahtgewebe auf Siebrahmen aufgespannt, die mit einem Schallleitersystem ausgerüstet sind. Über diesen Schallleiterring wird Ultraschall auf das Gewebe aufgebracht, das nun direkt angeregt wird, und nicht mehr ausschließlich durch die geringe Frequenz der Siebmaschine. Das Ergebnis ist eine deutlich optimierte Siebleistung: höhere Durchsatzleistungen, feinere Trennschnitte und Reduktion der Erblindung der Siebböden.
Im Bereich der Rechteckmaschen werden ab sofort die in den USA und Kanada unter dem Namen Ton-Cap bekannten Drahtgewebe in Deutschland gefertigt und erstmals in Europa vermarktet. Ton-Cap ist die Abkürzung für Tonnage-Capacity – also eine erhöhte Tonnage/Standzeit eines Siebbodens. Im Gegensatz zu den bisher in Europa bekannten Rechteckmaschen haben Ton-Cap Spezifikationen ein größeres Längen- zu Breitenverhältnis, was den Einsatz von dickeren Drahtdurchmessern erlaubt. Bei praktisch gleichbleibender offener Siebfläche wird das Flächengewicht somit deutlich erhöht, wodurch die durch Verschleiß beeinflusste Lebensdauer des Siebbodens im gleichen Maße erhöht wird. Zunächst bietet HAVER & BOECKER Ton-Cap Rechteckgewebe im Bereich von 0,18 mm bis 0,80 mm Maschenweiten an.
HAVER & BOECKER ist bekannt für die Lieferung von hochverschleißfesten Federstahlgeweben, die bis zu einer Maschenweite von 0,224 mm verfügbar sind. Bei feineren Trennschnitten müssen Absieber auf Standard-Edelstahlgewebe zurückgreifen, die eine geringere Festigkeit aufweisen, wodurch die durch Verschleiß bedingte Lebensdauer eines Siebbodens reduziert wird. Mit der Einführung von gewebten Siebböden aus Duplex-Materialien können jetzt auch noch feinere Trennschnitte aus einem verschleißfesteren Material hergestellt werden. Duplex ist außerdem magnetisierbar, so dass sich diese Gewebe auch hervorragend für die Lebensmittelindustrie eignen.
AT INTERNATIONAL: Inwieweit ist H&B aktiv im Bereich des Recyclings?
Helmut Schumacher: HAVER & BOECKER liefert Drahtsiebböden für viele Recycling-Anwendungen. Beginnend bei groben Drahtgittern für das Recyceln von Schotter und Schutt, die aus hochverschleißfestem Federstahldraht oder korrosionsbeständigem Edelstahl gefertigt werden, bis hin zu feinen Drahtgeweben, die zum Beispiel für die Aufbereitung von Kunststoff-Granulaten eingesetzt werden.
Dabei werden feinere Siebanwendungen häufig mittels vorgespannter Siebböden realisiert. Hierzu verklebt HAVER & BOECKER Drahtgewebe unter Spannung auf runde oder eckige Siebrahmen. Grobe Drahtgitter werden zum Beispiel mit Spannkanten versehen oder als Zuschnitte geliefert, die dann anschließend in Trommelsiebmaschinen auf mobilen Bauschuttanlagen eingesetzt werden.
Reinhold Festge: Langfristige Entscheidungen und Flexibilität sind und waren immer die Grundlagen unseres Handelns. Wenn Sie die Geschichte von HAVER &BOECKER Revue passieren lassen, war nur der Gründer weniger als 25 Jahre in der Pflicht. Die drei letzten Generationen haben bis zu 50 Jahren Zeit gehabt, die Firmengeschicke zu lenken. Das hat zu einer nachhaltigen und stabilen Entwicklung geführt. Die Firma hat es dabei immer verstanden, Industrie-trends zu identifizieren und mitzugehen. Das hat ja bereits zur Gründungszeit zum Erfolg beigetragen. Allerdings ist die Drahtweberei heute mit der damals gar nicht mehr zu vergleichen. Heute ist es ein hochmodernes Unternehmen mit einem breiten und hochtechnischen Produktspektrum, von der Automobilindustrie bis zur Weltraumtechnik. Wir werden auch in Zukunft kein Massen-, sondern ein Premium-Anbieter bleiben.
AT INTERNATIONAL: Welche neuen Entwicklungen gibt es auf dem Gebiet der Aufbereitungstechnik?
Reinhold Festge: Die Pellettierteller sind ja eingeführt und laufen. Intensiv arbeiten wir jetzt am FrictionClean zur Reinigung von hochkontaminierten, lehmhaltigen Rohstoffen. Ziel ist es, die klebrigen Komponenten abzureinigen. Wir haben ja bereits den Hydro-Clean® zum Waschen mittels Hochdruck. Mit dem neuen Produkt kommt eine Reibekomponente zur noch effizienteren Reinigung dazu. Der erste FrictionClean wird derzeit im Labormaßstab in Freiberg gebaut und wird auf den Haver Technology Days vorgestellt.
Reinhold Festge: Wichtige Punkte sind die Aufbereitung minderwertiger Rohstoffe. Dann arbeiten wir mit der Drahtweberei an der Entwicklung neuer Drahtgewebesorten oder die Kombination von Draht- und Kunststoffgeweben. Wir haben seitens der Drahtweberei z.B. gerade die Firma MajorWire in Kanada übernommen, die selbstreinigende und flexible Drahtgewebe im Portfolio hat.
Reinhold Festge: Aktuelle Projekte sind nach wie vor die Ölsandprojekte in Kanada sowie Eisenerzprojekte in Mexico und Chile.
Reinhold Festge: Auch für die Aufbereitungstechnik werden wir an intelligenten, d.h. sich selbst steuernden, Prozessen arbeiten. Das wird die Aufgabe der Zukunft sein. Ein Beispiel – wenn der Pelettierteller mit Material aus einer anderen Mine beschickt wird, das andere Eigenschaften hat, muss sich die Technik automatisch an die neuen Gegebenheiten anpassen können.
Reinhold Festge: Wir werden Gas geben bei den Neuentwicklungen. Zum einen z.B. bei den Produkten für die Aufbereitungstechnik. Da erschließen wir uns derzeit ganz neue Felder mit dem Pelletieren und dem Reinigen von kontaminierten Rohmaterialien. Zur Weiterentwicklung beim Pelletieren haben wir derzeit von Siemens den ersten Forschungsauftrag erhalten. In der Verpackungstechnik kommen wir mit neuen Lösungen für bestimmte Märkte und neue Produkte. Wir intensivieren unser Engagement in der Lebensmittelindustrie, werden aber auch die bereits existierenden Marktsegmente und -positionen weiter ausbauen. Unsere Erfahrung ist, dass der Kunde, der HAVER & BOECKER kauft, auch H&B haben will. Da nützt es nichts, günstigere und weniger leistungsfähige Produkte anzubieten, die den Kundenanforderungen dann nicht so wie ein Premiumprodukt gerecht werden.